Vom Sektennarrativ und einer instrumentalisierten Verwaltung
Das Amtsgericht Schweinfurt hat am 06.10.2025 ein Verfahren wegen gemeinschaftlicher Kindesentziehung im Umfeld der Weltanschauungsgemeinschaft Go&Change – teils vorläufig – eingestellt. Nach meinen Informationen sind die Auflagen erfüllt. Beweisprobleme und europarechtliche Bedenken bei § 235 StGB waren insoweit entscheidend. Das Sektennarrativ spielte nur bei der als aufgeschreckt zu bezeichnenden Strafbefehlsabfassung – wider besseres Wissen und wider die Akteninhalte – eine Rolle. Dass die Bundesrepublik Deutschland auf Kinder zugreifen möchte, um Lebens- und Glaubensgemeinschaften zu vertreiben oder zu neutralisieren ist dabei bedenklich, aber nicht neu.1 2 Nun hat es also auch faktisch Go&Change getroffen.
Das Verfahren in Schweinfurt am 06. Oktober 2025
Das Amtsgericht Schweinfurt hat am 06.10.2025 ein Strafverfahren wegen gemeinschaftlicher Kindesentziehung nach §235 StGB gegen vier im Umfeld der Weltanschauungsgemeinschaft “Go&Change” angesiedelte Personen – endgültig und vorläufig – eingestellt. Das besondere: Im zugrundeliegenden Verfahren wurde nicht nur Art. 1 I GG des betroffenen Kindes i.V.m. §158 FamFG verletzt, was das Oberlandesgericht Bamberg deutlich gerügt hat.3 Der Landrat hatte sich in dieser Angelegenheit rechtwidrig dafür eingesetzt, dass das Jugendamt zeitnah zugreifen kann – ohne den gesetzlichen Weg eines Familienverfahrens am Familiengericht zu gehen.4
Zu den Hintergründen der Frage, ob und warum Go&Change umstritten ist, findet man im Sektennarrativ die gewohnt einseitigen Artikel.5
Von den vier Angeklagten wurde das Verfahren gegen eine Person gemäß §153 Abs. 2 StPO (Einstellung wegen Geringfügigkeit) ohne jegliche Auflage endgültig eingestellt, die Staatskasse trägt auch die außergerichtlichen Kosten der angeklagten Mutter. Für die drei weiteren Angeklagten erfolgte eine vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen die Zahlung einer Geldauflage, gestützt auf §153a StPO.
Die Anklage bezog sich auf den Vorwurf, ein Kind entzogen zu haben, obwohl es in der vorgelesenen Anklage erhebliche Ungenauigkeiten hierüber gab, wann das Sorgerecht entzogen, Vormundschaft angeordnet und Straftaten angezeigt wurden. Der Staatsanwalt kam beim Vortragen der Anklageschrift mehrfach ins Stocken.
Erhebliche Beweisprobleme im Verfahren
Das Gericht wies im Rahmen der Hauptverhandlung dezidiert auf erhebliche Beweisprobleme hin, die den Fortgang des Verfahrens in Frage stellten. Diese betrafen sowohl den objektiven als auch den subjektiven Straftatbestand der Kindesentziehung.
Insbesondere betonte die Richterin die (familien)rechtliche Komplexität des Falles auch vor dem Hintergrund des Europarechts. Es wurden Bedenken geäußert, ob §235 StGB in seiner Auslegung nicht im Widerspruch zur Freizügigkeit nach EU-Recht stehen könnte. Eine klare und belastbare Feststellung des strafbaren Verhaltens sei unter diesen Bedingungen nur schwer möglich.
Hintergrund: Die Gemeinschaft „Go&Change“
Die Angeklagten sind Personen, die der angeblich oder tatsächlich – je nach Betrachter – umstrittenen Lebens- und Weltanschauungsgemeinschaft “Go&Change” nahestehen. Go&Change beschreibt sich selbst als „Entwicklungsgemeinschaft“.6 7
Im Verfahren soll seitens der Behörden eine Zugehörigkeit zu einer “Glaubensgemeinschaft” thematisiert worden sein, die für die Frage der Strafbarkeit aber keine Relevanz hätte. Es zeichnet sich das Bild, das bereits in der Vergangenheit bei Glaubensgemeinschaften über ein (falsches) Sektennarrativ gezeichnet wurde: Über den Zugriff der Jugendämter auf den „Nachwuchs“ Andersgläubiger oder Anderslebender soll in das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit eingegriffen werden. Dies umfasst neben dem Recht auf Glauben auch das Recht, diesen zu leben und damit an die eigenen Kinder weiterzugeben.
Das Gericht war bemüht, diese Thematik nicht anzusprechen. Die Verstrickungen des Landkreises scheinen so enorm, dass man in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren die aktenkundige Einmischung von Landrat Töpper wahrheitswidrig bestreitet und auch sonst erstaunliche Unkenntnis (andere würden dies Falschvortrag nennen) des Sachverhalts offenbart.
Die in einem Fall endgültige und in drei Fällen vorläufige Einstellung des Verfahrens (im Zeitpunkt dieses Abfassens sind die Auflagen erfüllt) trägt der festgestellten schwachen Beweislage und den komplexen Rechtsfragen Rechnung. Zu diesen durfte ich ein umfangreiches Rechtsgutachten erstatten, das ich in anonymisierter Form nach Rechtskraft der Einstellung hier veröffentlichen werde.8
Die Einstellung ist nicht gleichzusetzen mit einem Freispruch, impliziert aber, dass eine Verurteilung nach Auffassung des Gerichts im weiteren Verfahrensverlauf wenig wahrscheinlich ist. Ein Tatnachweis ist daher nicht geführt, so dass die Personen unabhängig von ihrer Weltanschauung als nicht verurteilt gelten. Zudem hätte eine umfangreiche Beweisaufnahme nach Rückmeldung der Verteidigung auch den Eingriff in die Weltanschauungsfreiheit ebenso thematisiert wie vermeintlich politische Einflussnahmen (s. o.)
Weltanschauung und Strafrecht
Die Weltanschauung von Menschen um Go&Change kann nur dann in strafrechtlichen Verfahren eine Rolle spielen, wenn diese ein Gegenstand der Straftatvorwürfe ist oder der Besonderheiten der Weltanschauung Rechnung tragen. Beides ist dann nicht der Fall, wenn die behaupteten und hier nicht belegten Straftaten „bei Gelegenheit“ in oder nahe einer Glaubensgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft erfolgen. Straftaten eines christlich lebenden Menschen werden insoweit zu Recht auch nicht dem Glaubensbereich zugerechnet, wenn Grundlagen dieser Taten nicht in der Weltanschauung liegen. Jede andere Betrachtungsweise verletzt das Grund- und Menschenrecht auf Weltanschauungsfreiheit.9 10
Insoweit hat dieses Verfahren neben einem angemessenen Ergebnis und einer angemessenen Verfahrensführung gezeigt, dass es staatlichen Behörden durchaus gelingen kann, auf den stigmatisierenden Begriff „Sekte“ zu verzichten.
Auch die „Main-Post“ berichtet unter Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der Verdachtsberichterstattung fehlerhaft und macht eine „Gemeinschaft“ verantwortlich, wo einzelne Menschen angeklagt wurden.11
Ich wünsche mir hier mehr Mäßigung bei Verdachtsberichterstattungen, bei denen ohne rechtliche wie tatsächliche Notwendigkeit Glaubens-, Weltanschauungs- und Lebensgemeinschaften in Verfahren hineingezogen werden. Vorallem sollte Presse ihrer neutralen Funktion Rechenschaft tragen.12 Die gelingt dann nicht, wenn man “gehörte” Fakten nicht prüfen will und sich auf Gerichtsfluren nur mit Polizeibeamten unterhält, nicht mit der Verteidigung oder informierten Betroffenen.
Rechtswidrige Strafbefehle
Eine Prüfung der Strafbefehle im Einklang mit der Aktenlage hätte ergeben, dass z.B. dem Vorwurf der Kindesentziehung auch Zeiten unterfielen, in denen bereits keine gerichtliche Entscheidung auf Entziehung derselben vorlag, was den objektiven Tatbestand des “Vorenthaltens” ausschaltet. Kenntnisse zum Aufenthalt des Kindes sind wegen §235 I StGB nicht bekannt. Dadurch stellt sich ohnehin die Frage nach Strafbarkeit.13 Denn die deutsche Rechtslage schränkt unzulässig die Freizügigkeit ein.14 Oder: Wenn eine Person auf zwei Aktenseiten Namens – und datumsmäßig als vor Ort in Deutschland anwesend erwähnt (und damit bewiesen) wird, dann kann diese für die Zeit zwischen diesen zwei Zeitpunkten nicht für eine “unbestimmte Zeit” absent gewesen sein (einfache Mathematik: 20.05.-18.05. macht maximal 2 Tage Abwesenheit). Das ist nur einer der einfach zu klärenden Fakten, die man wissen könnte, wenn man sich informieren würde. Die Presse wird hier ihrem Anspruch, keine Weltanschauungen zu schmähen, nur partiell gerecht.
Kindeswohlgefährdung und “Sekten”
Bei “Sekten” (richtiger wäre der Begriff “neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen”15, zumal erhebliche Forschungsdefizite bestehen16) wird das Thema Kindeswohlgefährdung schneller behauptet und in der Regel selten ausreichend begründet.17 Die Enquente-Kommission bewertet insbesondere die Weitergabe von eigenen Lebensformen als “wünschenswert”:
Die Übermittlung und Weitergabe von Werthaltungen,
Enquente-Kommission, Drucksache 13/10950, S. 84
Glaubensüberzeugungen und auch religiösen Vorstellungen an die folgende Generation stellt somit eine zentrale Funktion der Familie bzw. familienanaloger Lebensformen und der Milieus dar, in die sie eingebettet sind. Die Weitergabe religiöser Lebensformen ist als solche also kein Problem. Auch die erzieherische Vermittlung von – gegenüber den großen Volkskirchen – „abweichenden” religiösen Anschauungen und Glaubensprinzipien kann angesichts einer Pluralisierung
religiöser und areligiöser Weltanschauungen nicht als
problematisch verstanden werden.
Im Gegenteil: Die Achtung und Anerkennung pluraler, kulturell heterogener Lebensformen und Weltanschauungen ist ein
unhintergehbarer Bestandteil einer posttraditionalen
Ethik der Anerkennung von Vielfalt.
Nur wenn spezifische Gefährdungen des Kindeswohles vorliegen, ist staatliches eingreifen gerechtfertigt. Im vorliegenden Fall war der damals nur verdächtige Vater (Urteil inzwischen rechtskräftig18) aber in Untersuchungshaft und daher einer potentiellen Gefahr ausreichend begegnet. Eine konkrete, gegenwärtige und erhebliche Gefahr konnte damals für das Kind nicht begründet werden.19
Auch die damals weiter angedachten Aspekte (Übergabe des Kindes an die Polizei) sind fachlich unvertretbar, selbst wenn es einen Verwaltungsakt nach §42 SGB VIII samt schriftlich begründetem Sofortvollzug20 gegeben hätte.21 Denn den dann notwendigen Beschluss muss ein Gerichtsvollzieher22 vollstrecken.23 Hierzu muss zudem der Berechtigte mit anwesend sein.24
All das spielte in Schweinfurt keine Rolle. Hier wird in bester bayrischer “Westernmanier” erst “geschossen” und dann nachgetreten statt nachgedacht. Und wenn man dann faktisch verloren hat, dann wird die Presse “genutzt”, um darauf hinzuweisen dass es ja keinen Freispruch gab.
Das obige Verfahren zeigt, was wir seit Jahren kritisieren: Die Benutzung des Jugendamtes zur Beseitigung von Religions- und Weltanschauungsfreiheit.
Die Staatsmacht vergisst dabei, dass sie mit diesem Vorgehen die Werte, die sie verteidigen sollte, verrät. Die Tatsache, dass dann “Headline Hurts”, also Schlagzeilen verletzten, wie es mein Freund Peter Zoehrer hier kritisiert hat, sollte dann nicht in Verwaltungs- und Strafrechtliches Vorgehen übergehen. Denn dann verletzten auch diese Maßnahmen Moral, Anstand und das Grundgesetz.

- Zwölf Stämme, https://twelvetribes.org/ ↩︎
- Orde der Transformanten, https://ordedertransformanten.org/, vgl. mein Artikel auf Bitterwinter https://bitterwinter.org/order-of-transformants-a-dutch-court-sends-children-back-to-families/ ↩︎
- Oberlandesgericht Bamberg, 7 UF 120/23: “Vorliegend hat das Familiengericht dem betroffenen Kind entgegen der vorliegend zwingend gesetzlichen Regelung des §158 Abs. 2Nr. 1FamFG keinen Verfahrensbeistand bestellt. Zudem wurde die Entscheidung auch ohne die nach §159 Abs. 2 Satz 2 FamFG erforderliche Kindesanhörung getroffen.
Da ein Verfahrensbeistand fehlerhaft nicht hinzugezogen wurde, ist das betroffene Kind nicht ordnungsgemäß am Verfahren beteiligt worden. (…)
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass eine Kindesanhörung nicht lediglich
deshalb entbehrlich ist, weil der Aufenthalt des Kindes derzeit nicht bekannt ist.
(…)
Falls nach den durchgeführten Ermittlungen weiterhin von einem Aufenthalt des Kindes D. im Ausland auszugehen wäre, dürfte der Entzug der elterlichen Sorge für das Kind kein erforderliches Mittel zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung darstellen, denn dieser wäre nicht geeignet, eine mögliche Gefährdung zu verhindern. Entscheidend für die Frage der Eignung einer gerichtlichen Maßnahme zur Regelung der elterlichen Sorge sind nicht nur die, den Erlass der Maßnahme begründenden Umstände, sondern insbesondere auch die Möglichkeit der Durchsetzbarkeit der zu erlassenden Entscheidung” ↩︎ - https://www.landkreis-schweinfurt.de/landkreis/landrat/landrat ↩︎
- z.B. https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/verlag/erfahrungen-mit-der-gemeinschaft-go-change-in-franken-e891655/?reduced=true ↩︎
- Go&Change https://goandchange.de/ueber-uns/ ↩︎
- Komm lass reden, https://kommlassreden.de/ ↩︎
- Platzhalter, Link zum Rechtsgutachten folgt ↩︎
- vgl. hierzu die Weimarer Verfassung ↩︎
- zum Verhältnis Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz vgl. Uni Potsdam https://www.uni-potsdam.de/de/rechtskunde-online/rechtsgebiete/oeffentliches-recht/grundrechte/glaubens-und-religionsfreiheit-art-4-gg ↩︎
- MainPost, Artikel vom 07.10.2025, https://www.mainpost.de/franken/go-change-mitglieder-standen-in-schweinfurt-erneut-vor-gericht-weil-sie-ein-kind-versteckt-haben-sollen-071025-111953654 ↩︎
- Pressekodex https://www.presserat.de/pressekodex.html ↩︎
- vgl. unter anderem Kindesentziehung ins EU-Ausland straflos https://familienrecht.activinews.tv/kindesentziehung-ins-eu-ausland-straflos/ ↩︎
- EuGH (Achte Kammer), Beschluss vom 16.05.2022 – C-724/21, BeckRS 2022, 11880 und BeckRS 2020, 31283, EuGH (Vierte Kammer), Urteil vom 19.11.2020 – C-454/19 ↩︎
- Enquente Kommission des Deutschen Bundestages, https://dserver.bundestag.de/btd/13/109/1310950.pdf ↩︎
- Enquente Kommission aao “Für eine realistische, also weder überzogene noch verharmlosende Auseinandersetzung mit diesem gesellschaftlichen Phänomen sind gesicherte empirische Ergebnisse und fundierte wissenschaftliche Erforschung der unterschiedlichen
Aspekte der Thematik unerläßlich. Hier sind erhebliche Forschungsdefizite aufzuarbeiten.” ↩︎ - vgl. mein Artikel Kinderschutz oder Genozid: Zur Lage der Religionsfreiheit in Deutschland am Beispiel des Orde der Transformanten, https://familienrecht.activinews.tv/kinderschutz-oder-genozid-zur-lage-der-religionsfreiheit-in-deutschland-am-beispiel-des-orde-der-tranformanten/ ↩︎
- vgl. BR https://www.br.de/nachrichten/bayern/urteil-rechtskraeftig-goandchange-guru-muss-ins-gefaengnis,Ulq29eL ↩︎
- 1 BvR 1178/14 – Rn. 25; BGH XII ZB 247/11 – Rn. 25 ↩︎
- vgl. VG München https://erzengel.help/erfolg-fuer-mitglied-vg-muenchen-hebt-inobhutnahme-auf/ ↩︎
- vgl. Becker und Faber, Schwachstellen bei der Amtshilfe der Polizei für Jugendämter ↩︎
- in Bayern §156 GVGA ↩︎
- vgl. hierzu Lawmanga Folge 2 Serie 1, https://erzengel.help/wp-content/uploads/2025/03/DE-lawmanga.S1-E2.pdf ↩︎
- §156 Abs. 4 GVGA ↩︎
