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Amtsermittlung nicht allein auf den Gutachter übertragbar

OLG München Familiensenate Augsburg 30 UF 232/15 u.a.

Eine der wichtigeren Entscheidungen, wenn auch auf den ersten Blick eine “Niederlage”, ist diese Entscheidung aus dem Komplex 12 Stämme. Zu Recht hat das Oberlandesgericht München, Familiensenate Augsburg, das Amtsgericht Nördlingen für die passive Verfahrensführung und die Nichterhebung von Beweisen im Rahmen eines orbiter dictums1 gerügt.

Die wesentlichen Sätze, die für eine Vielzahl von Verfahren relevant sind, sind die folgenden:

Arbeitsbelastung des Gerichts

“Einen dem Senat durchaus bewusste hohe Belastung und teilweise Überlastung des Familiengerichts kann im Verfahren der Trennung von Mutter und Kind nicht zur Begründung herangezogen werden. Vielmehr muss dem gegebenenfalls über den Weg der Justizverwaltung begegnet werden.” (S. 8 d. Beschlusses)

Konkret ist die Verfahrensbeschleunigung unabhängig von der Arbeitsbelastung des Gerichts anzuwenden.

1 1/2 Jahre Verfahrensdauer ohne Gutachten und ohne Beweisaufnahme ist zu lange

Dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot für Sorgerechtsverfahren nach § 155 FamFG kommt vorliegend besondere Bedeutung zu, weil die Gefahr beachtet wer-den muss, dass allein durch die Verfahrensdauer, die bereits mehr als 1 1/2 Jahre beträgt, Fakten geschaffen werden, die eine Rückführung des Kindes zur Mutter im-mer mehr erschweren, Kind und Mutter entfremdet werden und ein erneuter Eingriff in das Umfeld des Kindes dieses wiederum in schwere Konflikte bringen könnte. Vor diesen möglichen Folgen für die seelische Entwicklung des Kindes erscheinen der bisherige Verfahrensgang und die bisherige Verfahrensdauer bedenklich.

Eine Verfahrensführung von 1 1/2 Jahren ohne (!) Gutachten ist bedenklich und schadet einem Kind. (S. 8 d. Beschlusses)

Umfangreiche Ermittlungen auch durch Zeugenanhörung trotz Gutachten

“Zugleich und parallel hierzu wird das Amtsgericht unverzüglich u.a. die weiteren nach § 26 FamFG von Amts wegen erforderlichen umfangreichen Ermittlungen insbesondere die Anhörung der Zeugen für den vorliegenden Einzelfall – durchzuführen haben. Insbesondere auch die Anlage von Zweitakten bzw. Drittakten dürfte zwingend geboten sein, um alle möglichen und notwendigen Maßnahmen durch Durchsetzung des Beschleunigungsgebotes effektiv zu ergreifen.” (S. 8/9 d. Beschlusses)

Amtsermittlungspflicht ist nicht (allein) auf den Gutachter zu übertragen

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die nach § 26 FamFG dem Gericht obliegende Verpflichtung nicht allein auf den Sachverständigen delegiert werden kann.” (S. 9 d. Beschlusses)

Bedeutung des Beschlusses in Familiensachen

Alleine dass ein Oberlandesgericht ein Orbiter Dictum erlässt, kommt nicht so oft vor, verdeutlicht aber die Wichtigkeit der Angelegenheit.

Gerichte müssen Amtsermittlungen durchführen (vgl. 1 BvR 3121/13 – Rn. 26, 1 BvR 1202/17, 1 BvR 160/14 – Rn. 49, 1 BvR 385/90, Rn. 68 u.a.). Hierzu reicht es eben nicht aus, die Akte nur an den Gutachter zu senden. Das Gericht muss mindestens nebenbei auch Beweise einholen, aus meiner Sicht eher vorher, um keine falschen oder unklaren Anknüpfungstatsachen in das Gutachten einzuführen.

Den Volltext dieser anonymisierten und wichtigen Entscheidung finden Sie hier:

  1. Ein Obiter Dictum (lat. „nebenbei Gesagtes“) ist eine in einer Entscheidung eines  Gerichtes geäußerte Rechtsansicht, die nicht die gefällte Entscheidung trägt, sondern nur geäußert wurde, weil sich die Gelegenheit dazu bot (Wikipedia) ↩︎

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